Plötzlich ist alles anders

Was ist das besondere am Wandern? An der Langsamkeit der Fortbewegung? Veränderungen passieren langsam, aber meistens kontinuierlich. Man spürt eine Entwicklung der Landschaft, der Sprache und der Sitten und der Bräuche. Doch das geschieht langsam. Dem Wanderer wird Zeit gegeben, sich umzustellen und anzupassen. Ganz anders, als wenn man mit dem Auto, dem Zug oder dem Flugzeug unterwegs ist. Hier steigt man in der einen Welt ein und kommt in wenigen Stunden ganz woanders raus. Plötzlich ist man in einem anderen Land, in einer anderen Landschaft, einem anderen Klima, spricht eine andere Sprache und auch das Essen ändert sich. Das ist ja auch der Reiz am Urlaub machen. Man möchte Neues kennen lernen und erleben.


Ich liebe aber diese Langsamkeit, die mir die Möglichkeit gibt, mir Zeit zu lassen und mich auf Neues einlassen zu können. Dass man beim Wandern aber auch mit sehr plötzlichen und deutlich merkbaren Veränderungen rechnen muss, zeigt mir die Überschreitung des Stilfser Jochs. Ich überschreite hier eine Grenze in vielerlei Hinsicht. Zum einen natürlich die Grenze zwischen zwei Bundesländer Italiens. Merkt man in Südtirol eigentlich kaum, dass man in Italien ist, fühlt man sich in der Lombardei schon mitten drin. 


In meinem Zimmer in einer kleinen Pension in Latsch im Vinschgau grüble ich über meine weitere Route. Alle bezahlbaren Unterkünfte, die ich in einem Tag zu Fuß in Richtung Westen erreichen könnte, scheinen ausgebucht zu sein. Überall, wo ich anrufe, ist ausgebucht. Ich schaue auf die Wanderkarte. Es gibt zwar Hütten, die ich erreichen könnte. Doch das sind alles Sackgassen, möchte man nicht über Gletscher gehen. Ein Tag in der Hitze auf Radwegen im Tal ist mir ein viel zu teures Hotel nicht wert! Ein anderer Plan muss her! Bis zum Stilfser Joch komme ich an einem Tag unmöglich. 14 Stunden Gehzeit ist mir dann doch zu viel. Zudem meint die Sonne es mal wieder zu gut und brennt unermüdlich von Himmel. Ok, dann muss halt wieder ein Bus her. Nach den vielen Absagen im Tal rufe ich vorsichtshalber im Rifugio Garibaldi am Stilfser Joch an. Eine Frau nimmt ab und meldet sich auf Italienisch. Wie Italienisch! Die letzte Stunde hab ich doch durchgehend auf Deutsch telefoniert! Vorsichtig frage ich, ob sie Deutsch oder Englisch spricht. Nein! Dann müssen meine Brocken Italienisch reichen. Sie spricht schnell. Nimmt keine Rücksicht, dass ich nichts, rein gar nichts, verstehe. Nach drei Minuten schnellem Italienisch und meinen gestammelten Versuchen, nach einem 'letto' 'per una notte' für 'domani' zu fragen, geben wir auf. Und dann kommen sie: vier ihrerseits gestammelte Worte, die ich verstehen kann: 'san call you later!' Ihr Sohn, der offensichtlich etwas 'inglese' sprechen kann, ruft mich später zurück. Eine Stunde später klingelt mein Handy und der freundliche Sohn meldet sich. Endlich, er versteht mich und ich ihn. Gut kann er nicht englisch, aber für meine Fragen reicht es aus. Ja, für mich sei auf jeden Fall noch Platz! Sehr gut!


Soweit wie nötig fahre ich mit dem Bus, um dann über 2000 hm zum Stilfser Joch aufzusteigen. Sobald ich die Baumgrenze erreicht habe, zieht mich der gigantische Gletscher des Ortlers in den Bann! Was für ein Panorama. Der Goldseesteig bringt den Wanderer abseits des Getummels und Lärms der Passstraße hinauf zur Dreisprachenspitze. Immer im Blick: der Ortler. Dass man auf so einem Panoramaweg nicht alleine unterwegs ist, versteht sich. Hunderte Wanderer sind unterwegs. Überall wird Deutsch gesprochen. Und dann erreiche ich auf 2850m die Dreisprachenspitze. Bis Südtirol 1919 an Italien fiel, war hier das Dreiländereck Österreich- Italien- Schweiz. Jetzt treffen sich hier drei Sprachen: Deutsch (Südtiroler Dialekt), italienisch (lombardischer Dialekt) und die rätoromanische Sprache (unterengadiner Dialekt). 

Sie Garibaldihütte steht schon in der Lombardei, wenn auch nur drei Schritte von der Schweiz und Südtirol entfernt. Aber schwupps ist alles nur noch auf italienisch! 

Die kleine Burg sieht gar nicht wie eine Hütte aus und auch von innen ist sie sehr schön und komfortabel eingerichtet. Nicht wie eine typische Hütte! 


Und dann, am nächsten Tag tauche ich ein in eine ganz andere Welt. Urplötzlich ist alles anders. Bin ich hier noch in den Alpen! Ja natürlich! Aber nicht mehr in den Alpen, die ich bis jetzt kenne. War die Vegetation vorher noch üppig, tauche ich in einen trockenen, fast vegetationslosen weiten Kessel ein. Alles scheint eine Dimension größer und mächtiger und vor allem einsamer. Wanderwege sind typischerweise alte Militärwege. Breit und wandertechnisch wenig spannend. Dafür kann man sich auf das drumrum konzentrieren! Mächtig ragen hier noch weitere Gletscher als der des Ortlers in die Höhe. Urplötzlich taucht man hier in eine andere Landschaft ein. Und das ganz alleine! Wanderer sollte ich drei Tage lang keinen einzigen mehr sehen. Ganz alleine ist allerdings nicht ganz richtig. Ich stehe unter Dauerbeobachtung. Ständiges Pfeifen macht mich darauf aufmerksam, dass unzählige Murmeltiere in der Nähe sein müssen. Etliche bekomme ich auch zu Gesicht!

Und da sind natürlich auch noch die Mountainbiker, die blitzschnell an einem vorbeisausen. An den Hütten weisen Schilder darauf hin, dass Biker herzlich willkommen sind. Kein Wort über Wanderer. Aber die Herzlichkeit der Menschen betrifft bestimmt nicht nur Biker. Auch als Wanderer werde ich sehr freundlich aufgenommen. 


Die Höfe am Wegesrand, die Hütten und die kleinen Dörfer sehen nun ganz anders aus. Alles ist kleiner, einfacher und vor allem älter. Die Häuser bestehen meist aus Stein, haben maximal noch einen ersten Stock und das Dach besteht aus einem verrosteten Wellblech. Einige Gebäude sind heruntergekommen und stehen leer. Hier merkt man, wie die Landflucht schon fortgeschritten ist. Mit Hilfe des Mountainbiketourismus wird versucht, dieser Landflucht entgegen zu wirken. Doch überfüllt ist hier gar nichts. In den Hütten gibt es immer genug Platz und die Mountainbiker sind nicht in Massen unterwegs. 


Nicht durch den Massentourismus geprägt, bekommt man hier einfache Unterkünfte und vor allem traditionelles Essen. Besonders erwähnenswert ist das Rifugio Eita. Nach 27 km Forstweg, erreiche ich eine kleine Ansammlung von Häusern: Eita. Meine Motivation ist im Keller. Wie ich Forstwege mittlerweile verfluche! Wie kommt man auf die Idee bis auf über 2300m Forstwege zu bauen und teilweise zu teeren! Ist eben kein Wandergebiet! Mein Plan weiter zu gehen, gebe ich auf. Noch mal 8 km Teer will ich heute nicht mehr. Ich betrete das einzige einigermaßen gepflegte Haus im Ort. Die meisten anderen Häuser sind heruntergekommen und leer. Innen erwartet mich ein rustikaler, aber mit viel Liebe eingerichteter Raum. Im Radio dudeln irgendwelche italienische Schlager. Zwei Frauen begrüßen mich herzlich. Ich frage nach einem Bett. Wieder nur auf italienisch. Macht nichts, mit Händen und Füßen funktioniert das prima. Ich werde in einen schlichten Raum mit 3 Stockbetten geführt. Alles etwas runtergekommen aber sehr gemütlich. Nach einer kalten Dusche setze ich mich nach draußen. Irgendwie hat diese Häuseransamnlung ihren ganz besonderen Reiz. Auf 1700m umgeben von hohen Bergen liegt sie ganz ruhig da. Ich fühle mich in der Zeit weit zurückversetzt. Ich beobachte alte bucklige Bäuerinnen, wie sie mühsam mit der Sense versuchen, die steilen Hänge zu mähen. Die wenigen Maschinen, die ich sehe, sind allesamt alt und verrostet. Doch das scheint keinen zu stören. Mit einer Ruhe und Zufriedenheit versuchen die wenigen übrig gebliebenen Bauern in der heutigen Zeit zu überleben. Nach einer Weile ist die Terasse von Einheimischen bevölkert, die versuchen, mit einem uralten Handy zu telefonieren. Mit meinem neumodischen Smartphone habe ich keine Chance, Netz zu bekommen. Als ich das Abends versuche, kommt die eine Hüttenwirtin und bietet mir an, von ihrem Festnetz aus zu telefonieren oder ihren privaten Computer zu benutzen. Ich lehne dankend ab. So dringend hab ich es nicht! 


Abends tischen sie mir ein Abendessen auf, mit dem ich nicht gerechnet habe. Unmengen von Pasta, Brot, Salat, Käse, Buttererbsen und vier Stück Kuchen zum Nachtisch. Das erste Mal auf meiner Reise gebe ich mich geschlagen. Diese Massen schaffe ich beim besten Willen nicht! Die beiden Frauen, die die Hütte bewirtschaften, setzen sich zu mir an den Tisch und essen mit. Die Verständigung ist zwar schwierig, aber lachen geht auch ohne Italienisch. Es ist ein lustiger Abend!


Außer mir ist mal wieder eine Schulklasse da. Mein Zimmer liegt genau neben ihren Schlafzimmern. Nach dem Essen führt mich die eine Wirtin in ihren privaten Bereich. Im Schlafzimmer, in dem die beiden schlafen, bleibt sie stehen und bietet mir an, bei ihnen in diesem Vierbettzimmer zu übernachten. Hier sei es viel ruhiger. Ich lehne dankend ab. In diesem sehr verqualmten Zimmer schlafe ich wahrscheinlich noch schlechter.


Nach einem italienischen viel zu zuckerlastigem Frühstück breche ich wieder auf. An Zwieback mit Marmelade oder Nutella und pappsüßen Kuchen zum Frühstück muss ich mich erst mal gewöhnen! Ich steige die gestern geplanten 8km in den nächsten Ort ab. Schon um 9 Uhr ist es heiß. Ich mache mich an den 1500m langen Aufstieg. Nach 5 Min bleibe ich stehen! Der Schweiß tropft. Ich habe keine Lust mehr! Weder auf 1500m Aufstieg, noch darauf, wieder stundenlang alleine irgendwelche Forstwege entlang zu latschen. Ich möchte wieder Menschen um mich haben! Ich hole mein Smartphone raus. Perfekt, ich habe Internet. Ich finde ein nettes Hostel auf Booking.com und buche. Dann drehe ich um. Heute brauche ich keine Höhenmeter mehr zum aufsteigen! Ich will ins Tal. Schmal ist der Mountainbikeweg hinunter und so wie er aussieht kaum befahren.

Ich schlage mich durch hohes Gras hindurch. Ein lautes, aggressives Zischen. Ich bleibe stehen und schaue mich langsam um. Zwei Meter von mir entfernt sonnt sich eine Schlange auf der Mauer. Mindestens 1,5 Meter lang, dick und schwarz. Nicht zu vergleichen mit den dünnen, schlanken und kleinen Kreuzottern, die bis jetzt meinen Weg gekreuzt haben. Ich gehe langsam weiter. Eine Recherche im Internet zeigt mir. Dieses Prachtexemplar von Schlange muss eine Zornnatter gewesen sein. Nicht giftig, aber aggressiv. 


Im ersten Ort angekommen suche ich einen kleinen Tante Emma Laden auf und decke mich mit Lebensmitteln ein. In dem Ort, wo das Hostel ist, gibt es keinen Laden. Viel zu schwer bepackt geht es weiter. Mittlerweile ist es so heiß, dass man sich in der Sonne nicht mal bewegen müsste, um zu schwitzen. Und ich habe nun noch mindestens 3 kg mehr auf dem Rücken: Brot, Pizza, Käse, Obst, Kekse und jede Menge Sprudel. Schon nach ein paar Metern denke ich: Oben in den Bergen wäre es viel angenehmer! Aber immerhin: seit ich in der Lombardei bin, gibt es in jeder Ortschaft Brunnen mit Drinkwasser und auch so in den Bergen am Wegesrand. Das ist schon was tolles und sollte meiner Meinung noch mehr Verbreitung finden! 10 schweißtreibende Kilometer später erreiche ich in der Nähe von Tirano das kleine Dorf Sernio. Schmale verwinkelte Gassen und alte Häuser prägen das Ortsbild. Sehr idyllisch am Hang gelegen ist es eine Oase der Ruhe! Mitten im Ort, gegenüber vom Rathaus liegt das Hostel. Ein großes Steinhaus, sehr schön hergerichtet mit großem Garten. Ich werde freundlich aufgenommen und auch von innen ist es eine sehr schöne Unterkunft. Alles in allem gehört sie bestimmt zu den schönsten bis jetzt! Und als großes Highlight: es gibt eine Waschmaschine! Nach dreißig Minuten in der Sonne habe ich schnell wieder wunderbar duftende trockene Wäsche. Hier möchte ich länger bleiben und buche gleich eine weitere Nacht. Ein Ruhetag in dieser Umgebung kann nur gut tun! 


Heute verbringe ich den Tag in diesem idyllischen Dorf. Ein Spaziergang nach Tirano, das eine wirklich nette kleine Altstadt hat, bringt mich wieder gehörig zum Schwitzen. Ein kleiner Vorgeschmack, was mich morgen erwarten wird. Denn ich werde morgen durch das Tal Valtellina weiterwandern.